Geschichten

Letos Erwachen

Langsam taucht Leto aus den Nebeln des Vergessens auf. Endlose Weite, Niemandsland.
Eine sich in die Unendlichkeit erstreckende, weiße Ebene. Nichts zu sehen, nichts zu fühlen, nichts zu hören. Oder doch etwas zu hören? Erklang da soeben ein metallenes „Ping“ in der Ferne?
Erwachte er gerade aus einer tiefen Narkose? Einem Koma?
Seine Augen fahnden innen nach einem Anhaltspunkt. Bunte Kreise, Spiralen, zwei Sonnen, die unscharfen Augen einer phantastischen Eule, verschwimmende Formen.
Wieder das „Ping“. Warnton eines Gerätes auf der Intensivstation?
Irgendwann versucht er einen Muskel zu rühren, irgendeinen. Er kann sie alle vor seinem geistigen Auge sehen, denn als Krankenpfleger kennt er sich aus mit Anatomie. Aber es gelingt ihm nicht. Nicht einmal die Lippen kann er verziehen oder die Augäpfel verdrehen. Ist er gefangen im Locked-In-Syndrom? Ist er tot für seine Umwelt, nicht mehr fähig zu signalisieren, dass er noch da ist?
Ach natürlich, er träumt, ist doch klar.

Nach Stunden oder Tagen weiß er, dass dies kein Traum ist.
Er beginnt, seine Innenwelt zu erforschen und findet nur Gedanken, Vorstellungen, Traumbilder.
Er sieht wieder den Nervenarzt, der ihn, als er vierzehn war, fragte, ob er onaniere. „Ich weiß nicht wovon Sie sprechen!“ Ungläubiger Blick des Arztes. Schuldbewusstsein und nicht wissen, wofür und warum. Der Arzt gibt ihm ein Buch, in dem genau beschrieben ist, welche der schädlichen Praktiken man besser nicht ausüben sollte.
In der nächsten Szene sitzt er auf dem heruntergeklappten Toilettensitz und probiert, was da so genau beschrieben ist. Nach fünf Minuten hat er seinen ersten Orgasmus und fällt fast vom Klo. Welches unbekannte Land hatte sein Geist soeben für einen Moment betreten? Er schaut in den Spiegel, in seine tiefen, dunklen Augen – und findet keine Antwort. Aber er wird es herauskriegen. Von nun an tut er es jeden Tag.

Später gibt es andere Methoden, um das Unbekannte, Neue zu spüren: Drogen, heftiges Atmen, Frauen.
Da ist das fremde Mädchen in der Straßenbahn. Ein feuriges Band scheint zwischen ihnen zu zucken, es zieht und wabert, er kann seinen Blick nicht von ihr lösen und sie nicht von ihm. Er folgt ihr in ihre kleine muffige Wohnung. Sie entkleidet sich und liegt ganz still und er ist über ihr und starrt ihr immer weiter in die Augen bis er nicht mehr kann und schweißüberströmt auf ihr zusammenbricht.
Einmal hat er zu viel Gras geraucht und sich eingebildet, er müsse ersticken. Er rennt. Das alte Krankenhaus aus rotem Backstein steht hoch auf einem Berg und er rennt um sein Leben diesen Berg hinauf und wundert sich, dass er so rennen kann. Er sagt dem Notarzt, er könne nicht verraten, was er eingenommen habe, aber er wisse genau, dass er ersticken müsse. Dabei ist sein Hals völlig frei und plötzlich hat er einen Lachanfall, der gar nicht mehr aufhören will. Seinen Namen will er nicht sagen, aus Angst vor der Polizei und der Arzt übergibt ihn der Nachtschwester. Die legt ihn in ein Bett auf dem Gang und grinst, denn sie weiß genau, was mit ihm los ist. Er versinkt in wirre Träume.

Ohne jedes Zeitgefühl treibt er jetzt im Universum seines eigenen Bewusstseins, abgeschnitten von jeder Kommunikation. Wenn er doch nur ein Lebenszeichen von einem anderen Wesen bekäme. Selbst ein Tier oder eine Pflanze hätte er auf virtuellen Knien begrüßt. Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, schreit er mit der Intensität einer gequälten Seele. Er erhält keine Antwort, bleibt allein in seiner einsamen, persönlichen Hölle.

Irgendwann merkt er, dass seine Gedankenimpulse zurückgeworfen werden. Er schickt sie erneut aus, bekommt ein Gefühl dafür, was tief aus seinem eigenen Hirn stammt und was Echos von weiter draußen sind.
Die gedankliche Umgebung nimmt Konturen an, er beginnt, sich ein Bild von ihr zu machen. Er muss mit einem Computer verbunden sein. Das schließt er aus der Tatsache, dass manche seiner Fragen beantwortet werden. Er kann Fragen in verschiedene Richtungen schicken, durch Kupferleitungen, in Glasfaserkabel, ins Internet. Die Bahnen, auf denen sich diese Impulse bewegen, macht er zu einem Teil seines Gehirns, er dehnt es aus, so weit er kann. Bald vermeint er, das Universum auszufüllen, aber es bleibt ein totes, ein künstliches Universum.
Er fragt: „Wo bin ich?“
Eine quäkende Computerstimme antwortet: „Dreiundvierzig Komma vier sieben Grad nördlicher Breite, fünfundsiebzig Komma eins null Grad westlicher Länge.“
Damit kann er nicht viel anfangen.
„Wer bin ich?“
„Ausstellungsobjekt siebenundsechzigtausendfünfhundertvierundvierzig Strich Null Null Neun.“
Nach einigen erfolglosen Versuchen gelingt es ihm, seine eigene, auf entfernten Festplatten gespeicherte Krankenakte zu lesen. Und er findet weitere schockierende Unterlagen. Er liest, dass sein Gehirn im Jahr 2030 nach jahrelangem Koma entnommen und zu Versuchszwecken mit einer Apparatur verbunden wurde, die es mit Sauerstoff und allen nötigen Nährstoffen versorgt. Die Versuchsanordnung erprobte Gehirn-Computer-Schnittstellen, die man für Querschnittsgelähmte einzusetzen hoffte. Niemand ahnte zu jener Zeit, dass es in ihm noch ein schlafendes Bewusstsein gab, das irgendwann wieder aufwachen würde.
Die jungen Wissenschaftler erzielten erstaunliche Ergebnisse, wurden mit Preisen überhäuft und ihre mustergültige Versuchsanordnung landete in einem Museum. Die Besucher konnten auf Knopfdruck das lebende, wenn auch bewusstlose Gehirn auf dem Bildschirm eines Tomographen sehen und seine Interaktion mit mehreren Computern beobachten. Daher die Versorgung mit Energie, daher die Nährstofftanks, der Sauerstoff, die gleichmäßige Temperatur der Nährlösung. Daher auch die Verbindung mit dem damaligen Internet – der Versuch konnte von jedem Punkt der Welt aus abgerufen und beeinflusst werden. Millionen von Menschen hatten per Mausklick sein Gehirn gereizt und beobachtet, was die damit verbundenen Maschinen daraufhin taten.
„Welches Datum schreiben wir?“
„Dreizehnter Dezember Zweitausendsieben­hundertzweiundvierzig.“

Leto verwandte die nächsten Jahre darauf, Kontakt mit der Menschheit aufzunehmen. Ohne Erfolg. Entweder war sie der Klimakatastrophe zum Opfer gefallen oder hatte sich selbst ausgerottet oder das veraltete Netzwerk, an dem er angeschlossen war, hatte keine Verbindung mehr mit den Kommunikationssystemen einer modernen Zivilisation – wenn sie denn existierte. Zunächst war es ihm hauptsächlich ums Überleben gegangen, er musste Angst haben, dass man ihm den Saft abdrehte, dass sein Sauerstoff eines Tages zu Ende sein würde. Dann kam die Phase, in der er sich den endgültigen Tod wünschte. Doch er blieb wo er war und was von ihm lebte, lebte weiter. Keine Gehirnzelle war abgestorben, im Gegenteil, er fühlte, dass sein Hirn besser funktionierte als je zuvor. Möglicherweise war es gewachsen, hatte neue Synapsen gebildet, hatte Teile seiner selbst mit anderen Teilen verbunden, die vorher nichts voneinander wussten.
So, wie ein Erblindeter nach kurzer Zeit den akustischen Sinn schärft und aus der eingeschränkten Wahrnehmung seiner Ohren ein funktionierendes Modell der Umwelt baut, so gelang es ihm bald, in seiner Phantasie zu existieren, als wäre sie die Realität. Letos Leben war ein immerwährender Traum, in dem er immer öfter vergaß, dass er nur ein Geist in einem Gehirn war. Aber irgendwann wurden ihm die eigenen Träume langweilig und er suchte nach Anregungen von außen. Auf den Rundflügen durch seine virtuelle Umgebung entdeckte er digitale Bibliotheken, mit Büchern aus den Jahren, als er noch seinen Körper benutzte. Manche dieser Bücher schufen nur neblige, verschwommene Welten, andere ließen solide Strukturen entstehen, Farben, Formen, Töne, Musik, ganze Symphonien von Gerüchen, Geschmäckern und Ausdünstungen aller Art.
Mit Jean-Baptiste Grenouille in „Das Parfum“ roch er den Verwesungsbrodem des Pariser Viktualienmarktes, mit Hannibal Lecter war die Welt voller Gerüche, die wie Farben in die Luft gemalt sind. Auf einer Flugreise öffnete Lecter voller Genuss eine Schachtel mit Brot eines Pariser Delikatessenhändlers, mit Trüffeln, „Pâté de foie gras“ und anatolischen Feigen, die noch von ihren harten Stielen weinen.

Ein Titel hatte ihn magisch angezogen, drückte er doch haargenau sein Empfinden aus, seine Sehnsucht, seine Einsamkeit, seine Jagd und das Gefühl, dass nicht sein denkendes Gehirn ihn am Leben erhielt und motivierte, nicht zu verzweifeln, sondern sein Herz, auch wenn er keines mehr besaß. Das Buch hieß: „Das Herz ist ein einsamer Jäger“.

Er liest es zum fünften oder sechsten Mal.

Er sitzt in Biffs Restaurant und beobachtet Baby mit ihrem Kopfverband, den sie trägt, weil Bubber ihr aus Versehen ein Loch in den Schädel geschossen hat. Baby ist unausstehlich, Lucile beschwert sich über sie und Biff sagt zu Lucile: „Hör auf damit, an ihr herumzunörgeln, dann ist sie ganz in Ordnung“. Biff stopft Baby ein Gummibonbon in den Mund, zieht ihre Schärpe zurecht, klopft ihr liebevoll aufs Hinterteil. Schließlich bringt er die beiden ganz in Letos Nähe unter, in der Fensternische. Leto spürt den Luftzug, als Biff an ihm vorbeigeht, riecht das Parfüm seiner verstorbenen Frau. Wundert sich, dass Biffs Bartstoppeln genau so bläulich schwarz schimmern, wie er es sich vorgestellt hatte, als er das Buch zum ersten Mal las. Er bemerkt, dass auch Jake Blount immer wieder ungläubig schnuppert, wenn Biff an ihm vorbeitänzelt. Singer und Blount sitzen an ihrem Tisch, Blount isst mit Behagen und redet sein übliches verrücktes Zeug, der Taubstumme hört höflich zu. Nebenan mümmelt Baby die feingeschnittene Hühnerbrust in sich rein und Lucile stochert auf ihrer Spezialplatte herum.
Biff steht hinter der Theke und geht seiner Lieblings­beschäftigung nach: Er beobachtet die Gäste. Leto fühlt jeden seiner Gedanken, sieht jedes Bild: lauter essende Leute. Weit aufgerissene Münder, in die das Essen hineingestopft wird. „Leben heißt nichts wie Essen und Trinken und Fortpflanzung“. Wo hat Biff das wohl gelesen? Leto muss virtuell lachen, für ihn ist Leben ... was kann er sagen?

Schade, dass er nur Gast ist in diesem Roman, die Zeit gefällt ihm, die Leute, besonders die frühreife Mick hat es ihm angetan. Leider kommt sie heute nicht. Soll er jetzt mit dem müden Biff rausgehen? Er weiß, auch der liebt Mick auf seine verquere Art. Er wird um ihr Haus schleichen, wie jeden Sonntag seit vier Wochen, aber er wird sie nicht zu Gesicht bekommen und er wird darüber nachdenken, was er ihr schenken kann und er wird ein Fünfcentstück im Rinnstein finden und es sauberputzen und einstecken. Obwohl der taubstumme Singer ihm am liebsten ist, weiß Leto doch, dass er mit dem ein bisschen unsympathischen Biff die größte Ähnlichkeit hat: Was wusste er? Nichts. Was war sein Ziel? Es gab keines. Was wollte er? Erkennen. Was erkennen? Einen Sinn. Warum? Ein Rätsel. Das sind Biffs Gedanken im Buch und das sind Letos Gedanken in dem, was er nun sein Leben nennt. Aber hatte Leto die gleichen Antworten wie Biff?

Er spürt, dass Fragen das Beste sind, das man sich und anderen antun kann. Fragen und auf die Antwort des Herzens warten. Sich selbst fragen. Denn die Antworten der Anderen, was nützten sie ihm? Insofern ist es gar nicht so schlecht, dass er jetzt völlig auf sich gestellt ist. Eines wundert ihn: die Liebe fehlt in Biffs Gedanken. Stellt er die Frage nach der Liebe nicht, weil er darin schwimmt? Weil er von Menschen umgeben ist, die er auf seine Art so sehr liebt, dass es wehtut?

Noch immer war Leto von dem unbändigen Drang beherrscht, Kontakt mit Menschen zu haben, auch wenn sein Verstand längst akzeptiert hatte, dass es keinen geben würde.
Ja, er hatte versucht, mit den Figuren seines Lieblingsromans zu interagieren, er hatte in Biffs Café randaliert, geschossen, hatte auf der Straße wildfremde Frauen geküsst, hatte sich zu Singer an den Tisch gesetzt und ihm im Gesicht rumgefummelt – bei ihm hatte er sich die größten Chancen erhofft, wahrgenommen zu werden – aber es erfolgte nicht die geringste Reaktion. Er ging wie ein Nebel durch die Menschen hindurch und sie durch ihn. Dennoch tat er so, als würde er dazugehören. Es gab ihm ein gutes Gefühl, ließ ihn über lange Zeiträume hinweg vergessen.

Er gewöhnt es sich an, gelegentlich in Biffs Restaurant zur Toilette zu gehen, weil er das früher immer so machte. Im Gegen­satz zu seinen Frauenbekanntschaften, die regelmäßig nach Verlassen eines Lokals quengelten, sie müssten mal dringend.
Als er wieder zurückkommt, sitzt dort eine Frau – nein, fast ein schlaksiges Kind – mit Ponyfransen, einem ausdrucksvollen rotgeschminkten Mund, riesigen kaffeebraunen Augen. Fast erinnerte sie ihn an Mick. Sie starrt ihn an, er starrt zurück.
War dieser Blick belustigt oder traurig? Gütig oder zynisch? Sah er sie oder sich selbst gespiegelt? War die Frau eine bisher unbekannte Figur des Romans oder wie er ein Besucher? Eine Leserin?
Das Stimmengewirr im Restaurant vermischt sich zu einem gleichmäßigen Rauschen, die Bewegungen, die er im Augenwinkel unscharf wahrnimmt, verschwimmen zu einem Ballett der Formen, wie die Blättern eines Baumes im Wind. Maße werden relativ. Die Konturen ihres Gesichts beginnen zu leuchten und verschieben sich zitternd gegeneinander. Das Gesicht ist alt, das Gesicht ist jung. Zeitlos. Er sieht Hexen, Totenköpfe, Vögel, weise alte Männer, lüsterne junge Mädchen, alles in immer schnellerer Folge. Er will eigentlich sprechen, aber je länger dieser Blick dauert, um so unpassender und unmöglicher scheint das.
Doch dann, ganz unvermittelt, spricht sie zu ihm, so dass er zusammenzuckt: „Willkommen in meinem Roman. Ich habe ihn für Sie geschrieben. Aus Liebe.“

Leto ist erstaunt, dass er weinen kann.
 

 

Anmerkung: Die Geschichte wurde geschrieben für den Münchner Menüwettbewerb, der unter dem Motto “Das Herz ist ein einsamer Jäger” stand.

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