Geschichten

Letos Erwachen
Paulchen Cairo

Paulchen Cairo

„Also ehrlich, dass in einem Krankenhaus-Café geraucht werden darf, ist doch echt das Letzte!“
„Ab ersten Juli ist Schluss damit!“
„Nein wirklich? Dann kann ich ja auf eine Beschwerde verzichten!“
Der Mann im grĂĽnen Anzug schob nach einem Blick auf die Rechnung einen Zehn-Euro-Schein unter den altertĂĽmlichen blauen Glasaschenbecher mit der Zigarrenwerbung und eilte seinem Freund hinterher.

Paulchen war entsetzt.
„Ist das wahr?“ flüsterte er und versuchte mühsam, zu der neben ihm stehenden Isidora Munkelmann hochzuschauen. Die kräuselte die Lippen und verdrehte die Augen. Dann näselte sie: „Das Rauchen in diesen Räumen wird strengstens verboten sein, wie unsereins es ja seit Anbeginn predigt, denn es schadet den Blumen und den Gardinen.“
„Und was wird aus mir?“
„Sie werden entsorgt! Sie sind gesundheitsschädlich, hässlich und hoffnungslos veraltet.“
Paulchen, der achteckige gläserne Aschenbecher, wollte eigentlich tief einatmen, kriegte aber keine Luft und produzierte stattdessen einen grauenvollen Husten, der an verrußte Lungen oder sterbende Asthmatiker erinnerte. Das war ihm noch nie passiert, obwohl Hunderttausende von stinkenden Zigaretten, Zigarren, Stumpen und Zigarillos in ihm ausgedrückt worden waren. Damit hatte er nie ein Problem gehabt – im Gegenteil, es entsprach seinem Lebensentwurf.
Ganz nebenbei nahm er Bonbonpapiere auf, Kaugummi, zerrissene Liebesbriefe, abgezählte Blütenblätter, Streichhölzer und Zahnstocher, Haarklammern, kaputte Gummibänder, verdrehte Büroklammern, Wattestäbchen und sogar verbrauchte Ohropaxe. Jeder dieser Gegenstände erzählte eine spannende Geschichte, wenn man nur zuzuhören vermochte. Auch Nasenpopel, ausgerupfte Nasenhaare, Grind, Fingernägel und sonstige menschliche Proben schluckte er ohne Murren – sogar ein gefülltes Kondom hatte mal jemand in ihm abgelegt.
Isidora Munkelmann hatte dieses Kondom nie vergessen, aber sie hätte sich eher den zierlichen Henkel abgebissen, als das zuzugeben. So etwas war undenkbar für eine klassizistische Vase.
Paulchen hingegen hatte dem Kondom stundenlang ein Loch in den Bauch gefragt, denn er interessierte sich brennend fĂĽr alle menschliche Themen.
Er liebte die Menschen, ihre Geschichten, Probleme und heimlichen Tätigkeiten. Das Krankenhauscafé war der richtige Platz für solche Vorlieben, hier ging es um fröhliche Geburten und Geburten mit Komplikationen, schwere Krankheiten, Pläne für die Zukunft oder bevorstehenden Tod.
Und damit sollte es nun zu Ende sein?
Paulchen wusste aus den vertraulichen Gesprächen im CafĂ©, was der Tod war – allerdings hatte er sich nie Gedanken gemacht, dass es ihn auch selbst betreffen könnte. 
Was würde passieren, wenn man ihn „entsorgte“, wie Isidora sich ausdrückte? Trat der Tod schon ein, wenn man in den Tiefen eines Glascontainers verschwand, oder erst, wenn man eingeschmolzen wurde? Verließ die Seele den Körper als Einheit, oder wurde sie in kleinste Teilchen zerlegt, die wie Einzeller mit Flügeln durch die Welt flatterten, um irgendwann wieder zusammengesetzt zu werden?

„Du wirst es bald erleben“, sagte Isidora, „man wird dich auf einem Lastwagen voll Schutt und Unflat auf den Müllplatz fahren!“
Hatte er laut gesprochen? Wie peinlich.
„Was macht Sie so sicher, dass Sie nicht auch auf diesem Müllplatz landen?“
„Ich doch nicht“, entgegnete die Vase und reckte sich hoch über die Tischplatte, „ich bin eine echte KPM, wohingegen Sie nur ein hundsgemeiner Reklame-Aschenbecher sind, ein Werbegeschenk. Es wundert mich ehrlich gesagt, dass man Sie so lange in diesem Etablissement geduldet hat.“
Paulchen schluckte. Wie oft hatte er solche Sprüche hören müssen! Ich bin von königlichem Geblüt, handgefertigt in der Königlichen Porzellan-Manufaktur zu Berlin.
Mitglieder des Adels – teure Pillendosen, goldene Feuerzeuge, lederne Zigarrenetuis –  hatten ihm zugeraunt, dass Isidora in Wirklichkeit eine plumpe Nachahmung war, wohingegen es sich bei ihm immerhin um einen echten Die gute Cairo handelte, ein wertvolles SammlerstĂĽck. Doch solche Versicherungen konnten sein Selbstbewusstsein nicht stärken. Tja, wenn er wenigstens ein bisschen Adel besessen hätte – wie der Lord Extra vom Tisch nebenan ...
Einmal hatte sich eine laszive Handtasche von Louis Vuitton in ihn verliebt: „...Und kam sie in Ekstase, dann schob sie auch den Leuchter nach – der war aus blauem Gla-a-se.“ hatte sie gesungen, bevor man sich schluchzend trennte. Niemals würde er ihren Duft nach Parfum und Leder, nach frischer Seebrise auf Kreuzfahrtschiffen, nach Pferdeturnieren und Autorennen vergessen. Seine Sehnsucht nach solchen Abenteuern wuchs und wuchs – doch näher und näher rückte der Tag, an dem all dies nicht einmal mehr gedacht werden konnte.

Renate Lebwohl und ihre Freundin Doris saĂźen schon eine ganze Weile an Paulchens Tisch und unterhielten sich ĂĽber Renates Mann.
„Er müsste nur abnehmen und den Alkohol reduzieren, dann bräuchte er nicht hier sein“, klagte Renate und Doris fügte hinzu: „und das Rauchen einstellen!“
Paulchen zuckte zusammen.
„Da hast du recht“, sagte Doris und schaute auf die Uhr. „Oh, ich müsste längst zu Hause sein!“
„Ich auch!“
„Ich müsste vor allem mal nach Pünktchen schauen!“
„Ach Gottchen, sitzt die etwa im Auto?“
„Sie hat bestimmt Durst.“
„Bring ihr halt ein bissel Wasser! Hier nimm den Aschenbecher!“
Doris schaute sich um und flüsterte: „Das kann ich doch nicht machen!“
Sie stand auf und ging zu der reizenden alten Dame hinterm Tresen. Nach einer Weile kam sie lachend zurĂĽck.
„Stell dir vor, ich soll nicht nur, wie du gesagt hast – den Aschenbecher nehmen – sondern brauche ihn auch nicht zurückbringen. Ab ersten Juli ist das Rauchen im Krankenhauscafé untersagt und dann wird das Teil nicht mehr gebraucht.“
„Na prima!“
Doris fĂĽllte Paulchen mit frischem Wasser und deponierte es im Kofferraum ihres Autos. Die Frauen ratschten noch lange weiter, und Isidora verdrehte gelangweilt die Augen.

Paulchen freundete sich unterdessen mit Pünktchen, der Chi-hua-hua-Dame an. Die setzte später bei ihrer Dienerin Doris durch, dass Paulchen als Trinkgefäß stets mitgeführt werden musste. So fuhr er im Auto herum und sah eine Menge von der Welt, die er bisher nur aus Erzählungen kannte.
Zusammen mit seiner neuen Freundin besuchte er Autobahnparkplätze, Schrebergärten, Vergnügungsparks und Jahrmärkte. In einem Biergarten bot ein Sammler eine Menge Geld für ihn, aber Pünktchen protestierte so lautstark, dass das Geschäft nicht zustande kam. Auf einem Friedhof wurde ein anderer Sammler beim Versuch, ihn zu stehlen, von Pünktchen gebissen und von Doris ins Krankenhaus gefahren. Dort fragte er nach der Vase Isidora Munkelmann und musste erfahren, dass man sie im Zuge der Renovierung des Krankenhauscafés in einem Müllcontainer entsorgt hatte.
Das machte ihn aber ĂĽberhaupt nicht traurig.

Wilfried von Manstein

 

 

Anmerkung: Diese Geschichte entstand im Seminar “Kreatives Schreiben” an der Internationalen Hochschule Calw. Sie wurde für den Putlitzer-Preis 2007 nominiert.

 


 

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